Heute etwa noch an gestern denken? - Nicht bei der Parität in Thüringen

von steffen
veröffentlicht von steffen am 01.09.2004
Dies ist ein Text aus einem Flugblatt, welches durch P83 am 26. August bei einer Tagung der Parität in Thüringen verteilt wurde. Die Parität hatte eingeladen, um über die künftige Schaffung von Arbeitsgelegenheiten für Langzeitarbeitslose - den sogenannten Ein-Euro-Jobs - zu beraten.

Heute etwa noch an gestern denken?
Nicht bei der Parität in Thüringen!

Am 06. August war in einer Presseerklärung der Parität in Thüringen zu lesen:

"In der Diskussion um Beschäftigungsgelegenheiten für Langzeitarbeitslose in Thüringen sieht der PARITÄTISCHE Thüringen durchaus Chancen im Freistaat. ... ‚Wenn in den Regionen jetzt nicht im Sinne der Schaffung von Beschäftigung agiert wird, bekommen wir einen heißen Herbst', warnt der Landesgeschäftsführer des PARITÄTI-SCHEN Thüringen, Reinhard Müller. Müller sieht das Potential der Wohlfahrtsverbände, allein in Thüringen tausende neue Arbeitsgelegenheiten zu schaffen. ‚Dazu ist es wichtig, dass die Arbeitsgemeinschaften von Bundesagentur für Arbeit und Kommunen sich jetzt mit uns an einen Tisch setzen'. Potential für Beschäftigung sieht Müller an vielen Stellen, so z.B. in den Bereichen
· Betrieb öffentlicher Museen und Kultureinrichtungen
· Essensversorgung in Kindertagesstätten, Ganztagsschulen, Jugendeinrichtungen oder Tagesstätten für Senioren und Behinderte
· Mithilfe bei der Durchführung öffentlicher Veranstaltungen
· Versorgung und Haushaltsdienste für Alte, Kranke und Behinderte, auch in Heimen und anderen Großeinrichtungen
· Betreuungs- und Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche
· Tätigkeiten im Reparatur- und Recyclingbereich
· Umweltschutz und Renaturierung
· Pflege und Betreuung von Kinderspielplätzen und Spielflächen im Wohnumfeld
· Pflege und Sanierung öffentlicher Gebäude und Grünflächen
· Tätigkeiten im Bereich des Denkmalschutzes
Der Landesgeschäftsführer des PARITÄTISCHEN Thüringen will die Wohlfahrtsverbände nicht als verlängerten Arm der Bundesregierung zur Durchsetzung von HARTZ IV verstanden wissen, doch müssten den Menschen jetzt Perspektiven aufgezeigt werden und dabei wolle auch der PARITÄTISCHE seinen Beitrag leisten. Verständnis zeigt Müller für die Ängste der Bevölkerung, die sich zunehmend auch in Demonstrationen niederschlagen. Kritisch beurteilt er dabei allerdings die Rolle des DGB und der PDS. "Man kann schon den Eindruck gewinnen, dass hier versucht wird, auf der Welle der Unzufriedenheit mitzuschwimmen". Es gehe ihm nicht um die Parole "Ruhe ist die erste Bürgerpflicht", versichert Müller. "Doch wir machen all denen, die verunsichert sind, das Angebot, sich in ihren Regionen zunächst beraten zu lassen."

Am 29. Juni 2004 klang es bei der Parität noch etwas anders:

Mit großer Sorge blickt der PARITÄTISCHE Thüringen der morgigen Sitzung des Vermittlungsausschusses von Bundestag und Bundesrat entgegen. Denn egal, ob die geplante Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum 1. Januar 2005 kommt oder um ein Jahr verschoben wird: Die Parteien haben sich mit Scheinkompromissen schon jetzt ein Armutszeugnis ausgestellt.
"6 Millionen Menschen werden hier zu Versuchskaninchen gemacht" kritisiert der Landesgeschäftsführer des PARITÄTISCHEN Thüringen, Reinhard Müller, scharf die für morgen geplante Abstimmung im Vermittlungsausschuss. Die Politiker seien müde geworden, sich mit den vielen offenen Fragen auseinander zu setzen. "Wenn Politiker sagen: Lasst es uns doch einfach mal versuchen, bedeutet das eben nicht mehr und nicht weniger, als mit dem Schicksal von Menschen zu spielen", so Müller.Das zeige sich schon daran, dass es nur noch um die Frage gehe, ob das neue Arbeitslosengeld II zum 1. Januar pünktlich ausgezahlt werden könne oder nicht.
Doch vom ursprünglichen Ansatz "Fordern und Fördern" ist dagegen keine Rede mehr. Städte und Gemeinde haben schon jetzt vielfach ihre Gelder eingefroren, so dass zahlreiche Beschäftigungsprojekte gefährdet sind. Jeder arbeitslose Jugendliche unter 25 hat, wenn das Gesetz kommt, einen rechtlichen Anspruch auf Beschäftigung.
Alle Politiker wissen, dass das Gesetz gerade in Ostdeutschland an der Realität vorbei geht und zwangsläufig soziale Verwerfungen auslösen wird. Derzeit gibt es in Thüringen 123 000 Arbeitslosenhilfeempfänger. Allein davon sind 83 000 Langzeitarbeitslose. Sie erhalten mit dem neuen Arbeitslosengeld II wesentlich weniger finanzielle Unterstützung oder keine Leistungen mehr. Der dadurch entstehende Kaufkraftverlust wird in Ostdeutschland zusätzlich die Wirtschaftskraft schwächen und zu geringeren Steuereinnahmen führen.
"Wir sind nicht für oder gegen die Verschiebung des Gesetzes, denn das ist gar nicht die Frage" stellt Reinhard Müller fest. Wir fordern, dass die Politiker sich mit der Realität auseinandersetzen. Dies bedeute, dass regionale Bedürfnisse erkannt werden und es zu einer vernünftigen Arbeitsebene zwischen Kommunen, Arbeitsagentur und Wohlfahrtsverbänden kommt. Denn nur so könnten Arbeitsgelegenheiten geschaffen und die Menschen optimal betreut werden.

Mit einem Gesetz, welches soziale Verwerfungen zwangsläufig auslöst und an der Realität vorbeigeht, bestehen Chancen für tausende Arbeitsgelegenheiten für Langzeitarbeitslose. Wer trotzdem verunsichert ist, solle sich doch erst einmal beraten lassen, am besten bei seinem künftigen Arbeitgeber, oder besser seinem künftigen Eine-Arbeitsgelegenheit-Zur-Verfügung-Steller: den Wohlfahrtsverbänden. Dass deren Beratungsinhalte keine anderthalb Monate überdauern dürften, wie obige Verlautbarungen zeigen, ist das Eine. Das Andere aber:

Was sind denn das eigentlich für Arbeitsgelegenheiten, die da angeboten werden und eine Chance für Beschäftigung darstellen sollen?

"Ein-Euro-Job" kann teuer werden

Empfänger von Arbeitslosengeld II müssen alle Kosten selbst bezahlen, die ihnen durch ihren "Ein-Euro-Job" entstehen. "Zum Beispiel müssen sich die Menschen davon ein Monatsticket für öffentliche Verkehrsmittel kaufen, damit sie ihre Arbeitsstelle erreichen", sagte eine Sprecherin der Bundesagentur für Arbeit. Ein Pressesprecher des Bundeswirtschaftsministeriums bestätigte auf Anfrage von MDR.DE, dass Erwerbslose auch für ihre Arbeitskleidung aufkommen müssten. Die Betroffenen sollten mit den ein bis zwei Euro pro Stunde nur für ihren Arbeitseinsatz entschädigt werden.
Mitarbeiter regionaler Arbeitsagenturen schließen nicht aus, dass das verdiente Geld komplett wieder für den Job verbraucht werden muss. ALG-II-Empfänger hätten dann trotz "Ein-Euro-Job" nicht mehr Geld in der Tasche, als wenn sie nicht arbeiten würden. Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) hatte zu den momentan diskutierten "Ein-Euro-Jobs" gesagt, diese seien als Beitrag gedacht, "erst einmal eine Not zu lindern."
Die Arbeitsagenturen sehen den Sinn der "Ein-Euro-Jobs" allerdings eher darin, Erwerbslose wieder an Arbeit zu gewöhnen. "Wir wollen die Menschen wieder an einen geregelten Arbeitsalltag heranführen", sagte eine Mitarbeiterin der Leipziger Agentur, und eine Kollegin in Erfurt ergänzte: "Menschen, die lange nicht mehr gearbeitet haben, müssen Dinge wie Pünktlichkeit und Verantwortung im Job erst wieder lernen. Wir wollen ihnen dabei helfen." Diejenigen, die zunächst nicht in Arbeit vermittelt werden könnten, würden mit Weiterbildungs- und Trainingsprogrammen unterstützt.
Nach Informationen von MDR.DE sollen die so genannten Arbeitsgelegenheiten zwischen drei und acht Stunden pro Tag ausgeübt werden. Die Arbeitsagenturen wollen die Arbeitszeiten davon abhängig machen, wie belastbar die Bewerber sind und um welche Arbeit es sich handelt.
Ob ein oder zwei Euro pro Stunde bezahlt werden, soll sich nach der Art der Tätigkeit richten. Derzeit ist geplant, die Jobs auf sechs Monate zu befristen. Noch ist auch unklar, ob zum Beispiel auch "Ein-Euro-Jobs" außerhalb des Wohnortes zumutbar sind. Zwar schreibt es das Hartz-IV-Gesetz grundsätzlich so vor, allerdings liegt die Entscheidung jeweils beim "Fallmanager" der Agentur für Arbeit. Die Bundesagentur bereitet derzeit Interpretationshilfen für die Vermittler vor.
Mit der im Januar 2005 in Kraft tretenden Hartz-IV-Reform werden die bisherige Arbeitslosen- und die Sozialhilfe zum neuen Arbeitslosengeld II zusammengelegt. Kürzungen drohen den ALG-II-Empfängern unter anderem, wenn sie sich weigern, eine als zumutbar eingestufte Arbeit anzunehmen. Bereits ab Oktober sollen die Kommunen als Ersatz für fehlende Jobs auf dem ersten Arbeitsmarkt "Arbeitsgelegenheiten" schaffen, etwa in der Altenbetreuung oder der Stadtreinigung. Für diese Tätigkeiten sollen die ALG-II-Empfänger ein bis zwei Euro pro Stunde zusätzlich zu ihrer staatlichen Unterstützung bekommen.
eine meldung von mdr-online.

Um es noch mal auf den Punkt zu bringen:

1. Eine Not soll mit einem Gesetz gelindert werden, welches die Not erst schaffen, zumindest aber verschärfen wird.
2. Mensch wird gezwungen, beschäftigt zu sein. Was beschäftigt sein heißt, bestimmt man aber nicht selbst.
3. Wenn man nicht so beschäftigt sein möchte, wie es irgendein "Fallmanager" verlangt, bekommt man weniger Geld als das Existenzminimum - die Existenz ist in diesem Falle logischerweise bedroht.
4. Falls man aber doch beschäftigt ist, so wie verlangt, muss man die Kosten tragen, die dadurch entstehen - ist ja auch logisch.
5. Geld bekommt man zwar auch, aber nur so wenig, dass nicht einmal die eigenen Kosten gedeckt sind.
6. Es ist also nicht auszuschließen, dass man gezwungen wird, beschäftigt zu sein, und man am Ende trotz bis zu 40 Stunden Beschäftigt-Sein in der Woche, keinen einzigen Cent mehr hat als 331 Euro im Monat.
7. Im Ernstfall könnte man sogar weniger haben, was wiederum die Existenz bedroht, wegen doch dem Existenzminimum. Und das, trotzdem man - wie verlangt - beschäftigt ist?
8. Aber das sind alles nur Nebeneffekte, denn man soll - anstatt in Saus und Braus zu leben (meint hier: mit dem Existenzminimum zu leben!) - ja eigentlich lernen: Pünktlichkeit, Verantwortung im Job (jetzt wird's interessant!). Und man soll wieder gewöhnt werden: an Arbeit. (man entwöhnt sich ja als LANGzeitarbeitsloser so SCHNELL!)

Gewöhnt wird man aber nicht an eine existenzsichernde Beschäftigung, die ein selbstbestimmtes und würdiges Leben ermöglicht. Gewöhnt wird man an einen Zustand des Ausgeliefert-Sein und der Erniedrigung.

Und da haben wir jetzt doch noch einmal eine Frage an die Parität und wollen uns gerne beraten lassen:
Profitiert Ihr eigentlich von dem, was Ihr Chance nennt und wir Ausbeutung?
Ach ja: Und warum nennt Ihr Euch nicht mehr Wohlfahrtsverband?

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