Emanzipatorische Bildung - Bildung zur Emanzipation

von Uwe (aus ForumRecht 02/04)
veröffentlicht von Uwe am 06.06.2004

Emanzipatorische Bildung - Bildung zur Emanzipation


Thesen zu politischer Bildung und dem Versuch der Verwirklichung in der Praxis

Wer sich kritisch mit der Gesellschaft auseinandersetzt, stellt recht bald fest, das dieses Gebilde ein sehr komplexes ist und viele Teilbereiche, Zusammenhänge sowie Abhängigkeiten hat. Um da durchzusteigen und individuelle Handlungs- und vor allem Veränderungsmöglichkeiten zu erkennen, bedarf es einer ganzen Menge an Wissen. Diese basale Einsicht kam vor ein paar Jahren auch einigen Menschen in Erfurt. Sie erkannten den Bedarf nicht nur bei sich und beschlossen auch anderen Menschen die Vermehrung ihres Wissens zwecks kritischer Reflexion der Gesellschaft zu ermöglichen. Dafür schlossen sie sich zum Bildungskollektiv (BiKo) unter dem Dach des arranca e.V. zusammen. Es wurden und werden Veranstaltungen und Seminare zu ‚linken’ gesellschaftskritischen Themen angeboten und durchgeführt. Bei der Reflexion des eigenen Tuns stellte sich dann nicht nur die Frage: Was machen wir eigentlich? Sondern vor allem auch: Wie machen wir das?
Nicht nur die Inhalte der Veranstaltungen, auch die Art und Weise der Vermittlung sollten ‚linken Ansprüchen’ genügen. So entstand ein Selbstverständnis, welches thesenartig eine emanzipatorische Bildung skizziert, deren Hauptziel die Befreiung von gesellschaftlichen, ökonomischen u.a. „Sachzwängen“ ist. Dieses soll im folgenden vorgestellt werden, wobei darauf hingewiesen sei, dass es sich hierbei nicht um ein starres Programm handelt, sondern eine ständige Diskussion um Weiterentwicklung und konkrete Umsetzung stattfindet und auch mit anderen gesucht wird.


In einem emanzipatorischen Bildungsansatz geht Bildung immer über die bloße Vermittlung von Wissen hinaus. Sie stellt die gesellschaftlichen Verhältnisse im Sinne einer Emanzipation grundsätzlich in Frage und führt Diskussionen um alternative Gesellschaften und anderes Leben. Somit ist sie stets auch politische Bildung.
Emanzipatorischer Bildung geht es weniger um punktuelle Verbesserungsvorschläge für Probleme wie z.B. Armut und Umweltzerstörung, als um die Diskussion von alternativen Ge-sellschaftsentwürfen. Sie geht davon aus, dass Kapitalismus und bürgerlicher Staat immer wieder Krisen erzeugen und nicht das Ende der Geschichte darstellen, dass eine grundsätzliche Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse möglich ist und Bildung ein erster Schritt dahin sein kann.
Dabei geht es jedoch nicht nur um eine „schöne ferne Zukunft“, sondern um einen Ansatz in der Gegenwart, an der aktuellen Lebenspraxis der Menschen.
Die Lernenden sollen deshalb nicht mit instrumentell anwendbarem Wissen oder maximal verwertbarem kommunikativem Rüstzeug zur Erhöhung ihrer Ware „Arbeitskraft“ gefüllt werden. Vielmehr stellt emanzipatorische Bildung eine Intervention dar, die Menschen zu-sammenbringt, um aktiv in aktuell brennende gesellschaftlich-politische Prozesse einzugrei-fen. Um dort eingreifen zu können, muss emanzipatorische Bildung in sozialen Bewegungen verankert werden. Zielgruppe sind diejenigen, die an einem besseren Leben interessiert sind und dazu in Interaktion mit Gleichgesinnten treten wollen.


Ziele emanzipatorischer Bildung


Die Gesellschaft durch Analyse und Kritik begreifen und Prozesse der Veränderung anzustoßen, ist Hauptziel emanzipatorischer Bildung.
Ein wichtiger Anspruch dabei ist die Aufhebung der klassischen Trennung von Theorie und Praxis, also die Zusammenführung von Bewusstseinsbildung und Handlungskompetenz. Mit diesem Spannungsverhältnis muss emanzipatorische Bildung sowohl inhaltlich als auch methodisch umgehen.
Die TeilnehmerInnen sollen nicht nur Wissen „aufsaugen“, sondern auch Möglichkeiten lernen, wie sich erworbenes Wissen praktisch umsetzen lässt. Sie sollen die Ergebnisse, Erkenntnisse und den Prozess auf ihren Alltag übertragen können.
Im Idealfall heißt das, dass der Prozess nach der Veranstaltung, dem Seminar oder der Diskussion, nicht beendet ist, sondern dass die Gruppen weiter an dem Thema arbeiten.


Bildung als individuellen Prozess begreifen


Bildung, gerade emanzipatorische, kann nie nach einem vorgefertigten Muster oder Plan verlaufen. Lernen, als Prozess des Verstehens und des Umsetzens, hat jedes Mal seine eigenen Ziele und Probleme, Methoden und Lösungsansätze. Dabei kommen immer verschiedene Individuen mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedürfnissen zusammen, denen mit einer starren Planung nur Gewalt angetan würde. Mehr als allgemeine und grundlegende Methoden und Formen der Gestaltung lassen sich deshalb nicht festmachen.
Für einen emanzipatorischen Bildungsprozess kommen im Idealfall Menschen zusammen, die gemeinsam Probleme erkennen, diese inhaltlich und theoretisch erfassen und dann gemein-sam in Aktion treten. Im Vordergrund stehen die Bedürfnisse und Wünsche der Teilnehmenden und an diesen setzt der Bildungsprozess an.
Dies darf sich jedoch nicht nur auf den inhaltlichen Teil des Bildungsprozesses beschränken, sondern trifft auch für dessen Organisation zu. Alle TeilnehmerInnen sollten sich idealer wei-se an der Themenfindung, Vorbereitung, Organisation und Durchführung einer Veranstaltung beteiligen. Die Umsetzung dieser Ideale in die Praxis zeigt, dass es bei der Themenfindung noch klappt. Dagegen bleibt die Vorbereitung und Organisation doch zumeist bei wenigen hängen und bei der Durchführung werden die Teilnehmenden eben durch die vorbereiteten Methoden „gezwungen“. Wobei aber z.B. das Konzept für ein Seminar immer vorgestellt wird und diskutabel ist, was den „Zwang“ wieder lindert und den Anspruch der Mitbestimmung und Hierarchiefreiheit wahrt.


Hierarchiefrei Lernen und Lehren


Ein stetiges, unformuliertes Lernziel emanzipatorischer Bildung ist ein kooperativer, respektvoller Umgang miteinander und die hierarchiefreie Organisation in Gruppen.
Deshalb muss auch die Arbeitsverteilung bei Seminaren und Veranstaltungen jeweils neu diskutiert werden.
Allerdings wird es immer Menschen geben, die sich in den Prozess intensiver einbringen kön-nen oder wollen. Das darf jedoch nie zu einer unterschiedlichen Wertigkeit der Menschen führen oder Möglichkeiten der Beteiligung beschneiden. Voraussetzung dafür sind möglichst weiche Strukturen, also niedrigschwellige Voraussetzungen für Partizipation.
Ziel sollte es sein, dass TeamerInnen, also Menschen, die den Rahmen für den Bildungsprozess organisieren und diesen am Laufen halten, sowie DozentInnen unnötig werden.
Die Behauptung, die Trennung von TeamerInnen und TeilnehmerInnen unter den jetzigen gesellschaftlichen Voraussetzungen aufheben zu können, ist jedoch utopisch. Deswegen muss deren Stellung offensiv als Machtposition benannt und Möglichkeiten zum Eingreifen bei Missbrauch gegeben werden.
Hier wird schon deutlich, dass die Überwindung der eigenen Gefangenheit in einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft, welche die Sozialisation aller Menschen geprägt hat recht schwierig ist. Hinzu kommt, dass Arbeits- und Aufgabenteilung als praktische Sache erscheint. Nur birgt sie immer auch die Gefahr der Schaffung einer hierarchischen Struktur, ob nun auf informeller oder handlungspraktischer Ebene.
Die Umsetzung der Ideale des hierarchiefreien Lernens und Lehrens in der Praxis erweist sich so oft als schwierig. Einige TeilnehmerInnen haben mit der scheinbaren Unstrukturiertheit bei Seminaren ihre Probleme, andere, vor allem Jugendliche, loten die Freiheiten der Gestaltung bis zur Schmerzgrenze aus und provozieren lehrerhafte Gegenwirkung durch die TeamerInnen. Insgesamt werden die Möglichkeiten, die sich durch die Offenheit ergeben aber von den meisten TeilnehmerInnen als positiv reflektiert. Wobei einschränkend festge-stellt werden muss, dass Menschen die gegensätzliche Ansprüche haben die Angebote zumeist gar nicht wahrnehmen.
Anders verhält es sich bei Abendveranstaltungen, welche meist in Form von Vorträgen mit anschließender Diskussion angelegt sind und so schon im Ansatz eine hierarchisch vorgeprägte Struktur haben. Weil es dabei aber meist um eine Darstellung von Sachverhalten, Fakten, Theorien o.ä. geht, ist diese Struktur vertretbar. Es gilt dann die Diskussionen ent-sprechend moderatorisch zu begleiten und Diskussionskultur, Beteiligung, Vielrednerei aber auch die zeitliche Begrenzung zu beobachten und wenn nötig einzugreifen.


Methodische Umsetzung


Zwischen dem Lernprozess durch selbst gemachte Erfahrung und dem der vermittelten Erfahrung (Selbst- und Fremderfahrung) besteht ein Spannungsverhältnis. Diese Spannung wird noch erhöht durch impulsive, neue Ideen, die auf keine Erfahrung zurückgreifen können.
Ein weiteres Spannungsverhältnis ergibt sich aus dem Alter der TeilnehmerInnen und deren unterschiedlichen Erfahrungshorizonten. Auch dies sollte statt als Behinderung besser als Bereicherung und Chance für den Bildungsprozess gesehen werden.
Der methodischen Aufgabe aus diesen Spannungsverhältnisen einen kreativen Prozess entstehen zu lassen müssen sich alle Beteiligten stellen, wobei die TeamerInnen bei der Bereitstellung des entsprechenden Rahmens besonders gefordert sind.
Machbar erscheint dies durch interaktive Methoden und das Dialogische Prinzip.
Bei beiden geht es um die Abkehr von Vermittlung nach dem Prinzip: ‚So war es, so ist es und so sollt ihr werden!’, sondern die aktive Einbeziehung der Teilnehmenden.
Brain Storming/Thought Shower eignet sich um orientiert am Vorwissen der Teilnehmenden in eine Problemstellung einzuführen. Mind Mapping zeigt Zusammenhänge auf, knüpft Ver-bindungen und Assoziationen und kann so als Leitfaden für die Bearbeitung dienen. Eine Zukunftswerkstatt wäre eine gute Methode, um ein ganzes Seminar orientiert an der Problemsicht der Teilnehmenden zu gestalten und problemorientierte Lösungen zu erarbeiten.
Diese drei Beispiele sind nur ein Bruchteil der Möglichkeiten den Pfad der „ausgelatschten“ Methoden zu verlassen und motivierende politische Bildungsarbeit in Gang zu setzen. Viele weitere Anregungen können das „Kleine Methoden-Lexikon“ und vor allem „mit Phantasie und Spass“ geben.
Gemein ist diesen Methoden, dass sie die verschiedenen individuellen Perspektiven aller Beteiligten anerkennen und sie für den Bildungsprozess nutzen, indem sie zu einem Austausch darüber anregen. Wichtig beim Dialogischen Prinzip ist jedoch, nicht beim Austausch über die verschiedenen Standpunkte zu verharren, sondern zu versuchen diese zusammen zu führen und für alle eine höhere Erkenntnisebene zu erreichen.


Ausschlusskriterien


Das Bildung keine Ware sein darf, sollte für Menschen, die einen emanzipatorischen Bildungsansatz vertreten klar sein. Es darf niemand aus finanziellen Gründen von Veranstaltungen ausgeschlossen werden. Problematisch wird es allerdings, wenn auf der anderen Seite Menschen von Bildung leben wollen. Daraus ergibt sich die politische Forderung, dass Bildung als allgemeines gesamtgesellschaftliches Bedürfnis anerkannt und finanziert wird, wobei die Unabhängigkeit von Bildung gewahrt bleiben muss.
Ebenso müssen andere Ausschlusskriterien wie Sprache, Kindererziehung oder Behinderung bei der Planung einbezogen werden, um gegebenenfalls Übersetzung und Kinderbetreuung oder anderen Ausgleich zu ermöglichen.



Literaturempfehlung:

FREIRE, PAULO: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit.

PAULO FREIRE GESELLSCHAFT E.V.(HRSG.): mit Phantasie und Spass. Praktische Anregungen für eine motivierende politische Bildungsarbeit. 4. Auflage Neu-Ulm 2000.

PETERßEN, WILHELM H.: Kleines Methoden-Lexikon. 2. aktualisierte Aufl. München 2001.

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