Identität und Ausgrenzung

von Michel (aus GWR 290)
veröffentlicht von michel am 04.06.2004

Identität und Ausgrenzung

Bei der Antifa eskaliert der Streit um nationale Symbolik. Das antideutsche Lager ist seit langem sicher, dass wirkliche Linke auf arabisch-palästinensischen Halsschmuck verzichten: "Coole Kids tragen kein Palituch". Dem entgegengesetzten Lager reißt bei der Israel-Fahne die Hutschnur. Anfang Februar zog diese Konstellation bei einer Antifa-Demo in Hamburg Schlägereien nach sich. Ein Versuch, die Diskussion um die Fahnen identitätsbewusst zu betrachten.

Identisches und Nichtidentisches

Wir können Identität fassen als symbolische Markierung des Identischen. Zur Markierung können "eigene" Merkmale oder die Abgrenzung vom Nichtidentischen herangezogen werden.

In beiden Fällen können wir davon ausgehen, dass die Identitäten nicht einfach der Ausdruck vorgesellschaftlicher Wahrheiten sind, sondern dass der Prozess des Identifizierens selbst seinen Inhalt konstituiert. Bisweilen muss ein gehöriger Aufwand betrieben werden, um die prognostizierten Gemeinsamkeiten zu umreißen. Die hartnäckigsten identitären Konstrukte verlegen ihren angeblichen Kern in Bereiche der Nichthinterfragbarkeit wie die Urgeschichte oder die Biologie.

So hat der Prozess des deutschen Nation-Building seinen inneren Sinn durch nationale Mythen wie die Schlacht im Teutoburger Wald erst mühsam gegen die vorher wirkungsmächtigen einzelstaatlichen Identitäten durchsetzen müssen.

Als konstitutives Außen dienten beim deutschen Beispiel der "Erbfeind" französische Nation auf der territorial-staatlichen Ebene und das Bild vom "Anti-Volk" der kosmopolitischen Juden auf völkischer Ebene. So weit, so schlecht.

Der Entwurf von Identitäten muss nicht zwangsweise dem gewaltsamen Ausschluss der "Anderen" dienen. Eine bewusste Identitätspolitik kann genutzt werden, um eine negativ codierte Identität positiv umzudeuten, wie es Kanak Attack oder die Schlampagne versucht haben - aus den negativen Zuschreibungen "Kanake" oder "Schlampe" werden selbstbewusst vertretene Selbstbeschreibung. Ebenso kann eine gemeinsame Unerdrückungserfahrung mit dem Bezug auf die Identität der Unterdrückten erfolgreich thematisiert und skandalisiert werden, wie es Teile der Frauenbewegung vorgemacht haben.

Keine Identitätskonstruktion ist aber ohne den oben beschriebenen Effekt der Abgrenzung vom Nicht-Identischen zu haben. Lesben und Migrantinnen haben so vor allem seit den 1990ern darauf hingewiesen, dass ihre Position im gemeinsamen "Wir" der Frauenbewegung nicht artikuliert wird .

Identitäten: vervielfältigen oder abschaffen?

Eine Antwort auf dieses Problem ist die Herausstellung der Vielfältigkeit gesellschaftlicher Identitätskonstruktionen, in deren Namen gesprochen werden kann, wie sie im Begriff der FrauenLesben oder der FeMigras (Feministische MigrantInnen) auftritt.

Eine andere und radikalere Antwort ist die Zurückweisung identitärer Kategorisierungen als Zumutung, wie sie im Rahmen der Queer-Bewegung und im "Pink-Silver Block" der GipfelhopperInnen geschehen ist.

Eine solche Antiidentitätspolitik ist Antipolitik, weil sie fernab aller realpolitischen identitären Trennungslinien die Wurzeln von Diskriminierung und Unterdrückung angeht : Ohne den sinnhaften Bezug auf eine geschlechtlich/sexuelle, nationale oder völkische Ordnung ist die sexistische, nationalistische oder völkische Unterdrückung von Menschen nicht möglich. Logische Folge dessen ist aber: so lange sexistische, nationalistische und völkische Unterdrückung geschieht, ist der Bezug (freilich nur der negative) auf die Ordnungskriterien sinnvoll.

Wer im Namen einer irgendwann angestrebten Überwindung der modernen Ordnungskriterien Staat, Macht und Geschlecht die derzeitige Wirkungsmächtigkeit dieser materiell/sozialen Formationen leugnet, liegt genau so daneben, wie diejenigen, die sie als überhistorische Konstanten verehren.

Antiidentitätspolitik braucht daher mehr als die nonchalante Ablehnung von Identitäten, sie muss die unterdrückerische Funktion und die Absurdität der Konstrukte analysieren und auf dieser Basis dagegen agieren.

Linke Identitätspolitik muss damit umgehen, dass der Aufruf der Identität immer die Bedeutung der identitären Konstruktion selbst verstärkt und damit eine notwendige Bedingung für jede Unterdrückung reproduziert .

Sagen wir: Linke Politik braucht ein Identitätsbewusstsein, dass die Konstruktionsbedingungen und die Wirkungsmächtigkeit von Identitäten reflektiert, auch darüber, welche Folgen die Thematisierung von Identität oder eben der Verzicht darauf hat.

Auf dieser Folie können wir den Fahnenstreit neu betrachten.

Ich spreche im Folgenden allein über die Bedeutung der palästinensischen und jüdisch/israelischen Identitätskonstrukte in Diskursen der Deutschen Linken.

Reden über Palästinenser

Erst Mitte der 1960er Jahre wurde die Bezeichnung "Palästinenser" von den neuen sozialen Bewegungen internationaler Solidarität massiv in den Diskurs gebracht. Hanan Ashravi, ehemalige Politikerin bei der Autonomiebehörde, fasst die Strategie als trotzigen Schrei nach einer eigenen Identität, um das Schweigen über die eigene Unterdrückungserfahrung zu überwinden . Ein Teil der deutschen Linken hat diese Strategie schnell übernommen und nutzte die Konstruktion zur massiven Skandalisierung der Verhältnisse in Israel und Palästina. In antiimperialistischen Plakaten, Flugblättern und Erklärungen wurde feste an dem Ziel gearbeitet, "die Palästinenser" zum universellen Symbol für Unterdrückung zu machen.

Als konstitutives Außen für die - an sich leere, weil an der realen palästinensischen "Vielfältigkeit" uninteressierten - Konstruktion der Palästinenser dient Israel resp. "der Israli/Jude", was gerade im deutschen Kontext an einen vorhandenen unterschwelligen Antisemitismus anknüpfen konnte bzw. was diesen je nach Argumentation oftmals zur Voraussetzung hatte.

Als palästinensische "Eigentlichkeit" bleibt in der plakativen Darstellung allein der Opferstatus. Symbole für die Pole der Opfer-Täter-Konstruktion sind das erschossene Kind bzw. der Steine schmeißende Kämpfer der Intifada und auf der anderen Seite der israelische Panzer.

Die banale Erkenntnis, dass es auch in der palästinensischen Gesellschaft Widersprüche gibt, wird zwar am Rande benannt, geht aber zu oft in der Kollektivsymbolik unter.

Die komplexen Gründe für die miserable Lage der Palästinenser und die inneren Widersprüche der palästinensischen Gesellschaft sind auf der Basis dieser Identitätskonstruktion nicht thematisierbar. Diese deutsche palästinensische Identifizierung nützt keinem konkreten Palästinenser, allein die Politik, die sich auf die Kollektivsymbolik bezieht, erhält einen moralischen Status, den sie ohne das Konstrukt nicht hätte.

Identitätsbewusst lässt sich also sagen: Die Politik im Namen "der Palästinenser" ist ein Beispiel für die Probleme, die sich aus dem Einsatz von Identitäten ergeben.
Die Konstruktion der Opfergruppe "Palästinenser" ging in Deutschland einher mit der Betonung des konstitutiven Außen der "Israelis/Juden", die in Anknüpfung an antisemitische Stereotype das negative Gegenbild darstellte. Mit viel Unterstützung der radikalen Linken wurde dieses Bild allgemein bekannt - die Symbolik von Steinen gegen Panzer hat die Tagesschau erobert.
Eine Perspektive, die den konkreten Menschen in Israel und Palästina gerecht wird, ist durch den antagonistischen und Unterschiede einebnenden Charakter der Konstruktion ausgeschlossen.

Die Konstitutionsbedingungen der israelischen Identitäten sind gänzlich andere.

Reden über Israelis und Juden

Die israelische Fahne ist eine Nationalstaatlichkeit repräsentierende Flagge. Und sie demonstriert ein Wir eines Staatvolkes. Sie steht für die aggressiv ein- und ausschließende Funktion von Staatlichkeit. Daneben steht sie aber wie alle Gruppensymbole auch für Schutz. Die israelische Flagge verweist auf einen Staat, der aus der Erfahrung von Antisemitismus, Pogromen und Verfolgung heraus gegründet wurde. Israel soll für viele Juden auf dieser Welt einen "sicheren Hafen" darstellen, einen Fluchtort vor einer Verfolgung und Bedrohung, die es über Jahrhunderte und auch heute noch gibt. Kein anderer Staat steht in seiner "Staatlichkeit" so im Zentrum grundsätzlicher Staatskritik wie Israel. Letztere ist im anarchistischen Kontext sicherlich hinlänglich bekannt und muss an dieser Stelle nicht ausgerechnet am Beispiel von Israel durchdekliniert werden .

Wenn die Staatskritik an dieser Stelle die Schutzfunktion des israelischen Staates ignoriert, nimmt sie angesichts eines fast weltweit verbreiteten mörderischen Antisemitismus fatale Konsequenzen in Kauf. Wer in der heutigen Situation den israelischen Staat auflösen will, nimmt diese Konsequenzen bewusst hin oder übersieht sie - deshalb kann sich Antisemitismus ohne Probleme als konsequente GegnerInnnenschaft zu Israel äußern. Andersherum muss sich Antisemitismus nicht notwendig in einer GegnerInnenschaft zu Israel ausdrücken. Gerade in Deutschland kann das Bekenntnis zu Israel auch bedeuten, Juden auf einen Platz zu verweisen.

So erklärt sich beispielsweise die konservative Begeisterung für den Sechstagekrieg im Sinne von "endlich schaffen sich die Juden ihren eigenen Ort, und wir sind sie los".

Zur antisemitischen Negation "des Jüdischen im Eigenen" gehört auch die wiederholte Ausbürgerung. In diese Kerbe schlägt, wer in Deutschland lebende prominente Juden als Botschafter des Staates Israel ansieht, wie es von deutschnationaler wie auch von linker Seite immer wieder geschieht.

Die Figur ist die selbe: Die Juden haben "ihr" Israel und gehören eben nicht zum "deutschen Volk", auch wenn sie subjektiv und objektiv Deutsche sind.

Mit dieser Figur wird der traditionelle Ein- und Ausschluss reproduziert, der als konstitutives Außen des "Deutschen Volkes" "die Juden" in Stellung bringt.

Für den identitätsbewussten Einsatz der Israel-Fahne heißt das:
Gegen antisemitisch motivierte Israelkritik kann der Verweis darauf, dass die israelische Kollektividentität neben den fundamentalen Problemen jeder Staatlichkeit auch Schutz bietet, durchaus sinnvoll in Stellung gebracht werden. Die auch am Fahnenstreit beteiligte Berliner Gruppe Kritik&Praxis würde z.B. am Al Quods-Tag, wenn islamistische Fundamentalisten und deutsche Nazis gegen Israel demonstrieren, durchaus die Israel-Fahne zeigen. Wenn jedoch die Fahne als allgemeine Chiffre gegen Antisemitismus in Stellung gebracht wird, rekurriert sie auf das antisemitische Missverständnis, dass zwar die meisten Israelis Juden, nicht aber die meisten Juden Israelis sind . Es gibt eine ganze Menge andere Dinge, die man gegen Antisemitismus in Deutschland tun kann, auch ohne dem Umweg über die Fahne.
Der bloße Verweis auf Israel ist dafür kontraproduktiv und trägt allzu oft allein den Sinn, ihre (Anti)Deutschen Träger als solche zu identifizieren.

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