Das Ende der Nationalökonomie

von Robert Kurz
veröffentlicht von michel am 25.03.2004

Die Globalisierung und der lange Abschied von einer Welt der Nationen

Die ökonomische Wissenschaft befindet sich in einer tiefen Krise. Denn ihre Begriffe stimmen nicht mehr mit der Realität überein. Schon der Name der Disziplin sagt es: "Volkswirtschaftslehre" oder "Nationalökonomie". Das war einmal. "Globalisierung" heisst das Stichwort heute: Globalisierung der Märkte, des Geldes, der Arbeit. Gewiss, einen Weltmarkt gibt es schon seit dem 16. Jahrhundert. Dennoch wuchs die moderne Marktwirtschaft zunächst vor allem in den Funktionsraum der "Nationen" hinein, die ein Produkt des 18. Jahrhunderts waren: auf der Basis eines kohärenten nationalen Kapitalstocks entstanden Nationalstaaten mit nationalen Systemen des Rechts, der Infrastruktur usw. Der Weltmarkt war "Aussenhandel" und beschränkte sich auf eine sekundäre Ebene. Und dieser Prozess der Herausbildung von immer neuen Nationen und Nationalökonomien zog sich bis tief ins 20. Jahrhundert hinein. Obwohl alle unsere gesellschaftlichen Ideen und sogar die "politischen Gefühle" immer noch auf den historischen Raum der Nation bezogen sind, gehört diese Welt zumindest im ökonomischen Sinne schon der Vergangenheit an. Mit atemberaubender Geschwindigkeit ist seit den 80er Jahren unter unseren Augen ein neues Bezugssystem in Erscheinung getreten. Satelliten und Mikroelektronik, neue Kommunikations- und Transport-Technologie, nicht zuletzt billige Energie machten es möglich: jenseits der alten Nationalökonomien entsteht ein einziger globaler Supermarkt. Alles wird jederzeit und überall gehandelt: die Schulden der Dritten Welt (Brady-Bonds), Autoteile, billige Arbeit, menschliche Organe. Die Globalisierung hat neue Fakten geschaffen, aber die ökonomische Wissenschaft ebenso wie die Politik sind auf ihren alten Begriffen und Theorien sitzengeblieben: eine "Weltwirtschaftslehre" oder "Globalökonomie" gibt es an den Universitäten nicht. Was hat sich eigentlich grundsätzlich geändert? Der Weltmarkt ist bis tief in die Eingeweide der alten Nationalökonomien vorgedrungen, seine Zunge leckt gewissermassen bis in das letzte Dorf am Rande der Welt. Schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Export von Waren zunehmend durch den Export von Kapital erweitert. Ford exportierte nicht mehr nur Autos aus den USA nach Deutschland, sondern baute in Deutschland eine Fabrik für den deutschen Markt. Umgekehrt investierte Volkswagen in den USA, um den dortigen Markt zu beliefern. So entstanden multinationale Konzerne, aber die Kohärenz der Nationalökonomien wurde dadurch noch nicht in Frage gestellt. Dies geschah erst durch die neue Qualität der mikroelektronischen Revolution: jetzt können sowohl monetäre Transaktionen als auch materielle Produktionsprozesse global zerlegt werden. In Form der Euro-Geldmärkte hat sich das Kreditsystem von der Kontrolle der nationalen Notenbanken emanzipiert. Ein deutscher Spekulant kann in Japan mit Dollars operieren; Kredite in DM können in den USA von einer japanischen Firma aufgenommen werden. Dasselbe gilt in der Produktion: für ein Produkt, das von einer deutschen Firma auf dem deutschen Markt verkauft wird, können die Teile in England und Brasilien vorproduziert, in Hongkong montiert und das Resultat aus der Karibik expediert werden. Schon seit den 60er Jahren expandiert der Welthandel stärker als die Weltproduktion, und die scheinbare Verselbständigung des Handels hat sich in den 80er Jahren noch einmal beschleunigt. Dieses Phänomen ist ein Ergebnis der Globalisierung: so erscheint z.B. die Produktion japanischer "Schraubenzieher-Fabriken" in Lateinamerika und Europa, die nur vorgefertigte Komponenten zusammensetzen und deren "Local Content" minimal ist, als Export Mexikos in die USA oder als Export Englands nach Spanien. Tatsächlich haben wir es dabei nicht mehr mit dem Export und Import von Konsum- und Investitionsgütern zwischen verschiedenen Nationalökonomien zu tun, sondern mit einer neuartigen Arbeitsteilung innerhalb von multinationalen Konzernen oder internationalen Verbund-Systemen quer zu den bisherigen Nationalökonomien. Die Aufteilung der produktiven Funktionen ist nicht mehr betriebswirtschaftlich auf einen Ort konzentriert, sondern umgekehrt zerstreut sich die Betriebswirtschaft eines Unternehmens über Länder und Kontinente. Alle Komponenten des Produktionsprozesses und des Finanzsystems vagabundieren über den Globus. Auch die Absatzmärkte sind über die ganze Erde verstreut, denn je stärker die kapital-intensiven High-tech-Investitionen werden und je mehr die Rationalisierung durch "Lean Production" voranschreitet, desto wertloser wird die menschliche Arbeitskraft, desto grösser die Arbeitslosigkeit und desto geringer die national konzentrierte Kaufkraft. Die Konkurrenz zwingt also sowohl zum globalen Marketing also auch zum "Global Outsourcing", immer auf der Suche nach niedrigen Kosten und hohen Verkaufszahlen - egal in welchen Regionen der Welt. Das deutsche Fachmagazin "Wirtschaftswoche" hat dazu die Parole ausgegeben: "Produzieren, wo die Löhne niedrig, forschen, wo die Gesetze grosszügig sind, Gewinne dort ausweisen, wo wenig Steuern anfallen". Auf diese Weise verwandeln sich sogar die Manager mittelgrosser Unternehmen allmählich in "Global Players". Das betriebswirtschaftliche Kapital ist nicht mehr Teil eines nationalen Kapitalstocks, sondern internationalisiert sich. Wir stehen erst am Anfang dieser Entwicklung. Nach Angaben der Beratungsfirma McKinsey sind bis jetzt ca. 5 Prozent des "deutschen" Kapitals globalisiert, es sollen aber schon bald 25 bis 30 Prozent sein. Damit verändert sich auch die strategische Orientierung. Betriebswirtschaftliche und nationale Loyalität fallen auseinander. Es gibt keine nationalen Entwicklungs- und Wirtschafts-Strategien mehr. Der Vorstand der deutschen Siemens-AG tagte kürzlich demonstrativ in Singapur, und die neueste Chip-Generation von Siemens wird nicht wie ursprünglich geplant im ostdeutschen Dresden, sondern in Schottland produziert. Die Deutsche Bank-AG verlegte zum Ärger der deutschen Bundesbank ihre Investment-Abteilung von Frankfurt nach London. Mercedes-Benz gibt seine Bilanz nicht mehr in Stuttgart, sondern in New York bekannt, und das neue Swatch-Auto von Mercedes wird nicht in Süddeutschland, sondern in Frankreich gebaut. Auch die Unternehmen der Zuliefer-Industrie verlegen die Produktion nach Portugal, Polen, Tschechien und Südostasien; zuhause sitzt nur noch die Finanzabteilung, und deren Abrechnung wird demnächst von einem Dienstleister in Indien erledigt. Die Philosophie der Qualitätsbezeichnung verlagert sich ebenfalls von der nationalen auf die globalisierte betriebswirtschaftliche Ebene: nicht mehr "Made in Germany", sondern "Made by Mercedes". Zweifellos sind die Konsequenzen absurd und gefährlich. Die Ökonomie der Unternehmen wird grenzenlos, aber der Staat bleibt seiner Natur nach auf das nationale Territorium begrenzt. Der Staat ist also zunehmend weniger der "ideelle Gesamtkapitalist" (Marx) eines nationalen Kapitalstocks mit einer gewissen Kommandogewalt, sondern er wird zur Geisel der "Standortfrage" degradiert. Die alte "politische Ökonomie" verkehrt sich zur "ökonomischen Politik", deren Löffel nicht mehr weit reicht. Wenn die Politik den entfesselten totalen Markt sozial einschränken will, dann drohen die globalisierten Unternehmen eben mit dem "Auszug aus Ägypten". Das gilt auch für die ökologischen Auflagen. Gewässerschutz? Vergiftung des Bodens? Da fragen Sie am besten mal in Mexiko nach, wo die Kühe auf der Weide mit Schaum vor dem Maul tot umfallen dürfen, ohne dass die Politik Probleme macht; und dann unterhalten wir uns nochmal über die Kostenfrage... Zusammen mit der Kompetenz des Staates verfällt auch der alte Gegensatz von "nationaler Befreiung" und "Imperialismus". Die Regimes einer nationalen Akkumulation in der Dritten Welt haben fast alle kapituliert, weil sie die Kapitalkosten einer eigenständigen industriellen Entwicklung unter dem Druck der Globalisierung nicht mehr finanzieren können. Grosse Teile der nach globalen Standards unrentablen Staatsindustrien werden stillgelegt und der Rest privatisiert, d.h. in vielen Fällen an globalisierte Unternehmen verkauft. Kurzfristig kann damit vielleicht die Staatskasse saniert werden. Aber das hereinströmende Kapital hat nicht mehr die Entwicklung eines ganzen Landes im Sinn. Es muss mit niedrigen Steuern und anderen Vorteilen gelockt werden, die Arbeitsplätze werden durch Rationalisierung abgebaut, die Gewinne fliessen anderswohin und Garantien für Investitionen gibt es nicht. Umgekehrt verlieren die alten imperialistischen Staaten die Lust an territorialen Annexionen und an "Einflusszonen". Was sollen sie mit riesigen Gebieten der Armut anfangen, deren Menschen sie nicht mehr verwenden können? Jede nationale "Einflusszone" ist nur noch ein unproduktiver Kostenfresser. Die "Zonen der Rentabilität" aber, die sich fast täglich verändern, sind wie ein Hautausschlag quer über den Globus verteilt, und selbst die mächtigsten Staaten können über diese zerstreute Ökonomie keine Kontrolle mehr ausüben. Auf diese Weise werden die Unterschiede zwischen reichen und armen Ländern langsam aber sicher eingeebnet, freilich ganz und gar nicht im Sinne der allgemeinen Wohlfahrt. Überall setzt sich die Orientierung auf den Export durch, d.h. die direkte Integration in den entfesselten Weltmarkt, während gleichzeitig immer weniger Menschen marktwirtschaftlich integriert werden können. Regionale Freihandelszonen wie Nafta, EU oder Mercosur verschärfen das Problem eher, weil sie in der Regel die nationalökonomische Desintegration beschleunigen und nur zu einem multinationalen Verbund der kleinen Inseln des Wachstums führen. Aus der Chaostheorie kennen wir das "Prinzip der Selbstähnlichkeit": bestimmte Strukturen wiederholen sich auf allen Grössenskalen. Das globale Marktsystem wird "selbstähnlich": in jedem Kontinent, in jedem Land, in jeder Stadt werden bald gleichermassen Massenarmut und Slums einerseits, kleine obszöne Inseln des Reichtums und der Produktivität für den Weltmarkt andererseits existieren. Die Staaten geben wegen mangelnder Finanzkraft immer grössere Teile der eigenen Bevölkerung auf, die praktisch nicht mehr als Bürger behandelt werden. Die Behörden versuchen schliesslich nur noch, die "exterritorialen" Sektoren des Elends und des Wahnsinns militärisch unter Kontrolle zu halten. Für Geschäftsreisende in Sachen Globalisierung gibt es inzwischen einen "Security Guide", der aufzählt, wo überall heute schon "gesetzlose Zustände" herrschen. Es ist offensichtlich, dass es mit dieser Art der kapitalistischen Globalisierung kein gutes Ende nehmen kann. Eine globale Ökonomie für eine immer kleiner werdende Minderheit ist nicht lebensfähig. Wenn die globalisierte Konkurrenz immer mehr industrielle Produktion "unrentabel" macht und immer mehr Regionen ökonomisch veröden, dann minimalisiert das Welt-Kapital seinen eigenen Aktionsradius. Auf einer zu kleinen, über die ganze Welt verstreuten Basis kann das Kapital auf Dauer nicht mehr akkumulieren, ebensowenig wie man auf einem Bierdeckel Samba tanzen kann. Ausserdem erzeugt die Globalisierung einen neuen strukturellen Widerspruch zwischen Markt und Staat. Denn durch die Internationalisierung des Kapitalstocks entzieht sich das Kapital dem staatlichen Zugriff und vermindert die Einkünfte des Staates. Andererseits ist aber das globalisierte Kapital mehr als jemals zuvor auf eine funktionierende Infrastruktur angewiesen (Flug- und Seehäfen, Strassen, Transport- und Kommunikationssysteme, Schulen, Universitäten usw.), die nach wie vor nationalstaatlich organisiert werden muss. Die Globalisierung schlägt dem Staat die finanziellen Mittel aus der Hand, die für die Voraussetzungen der Globalisierung selber benötigt werden. Vor allem aber sind es die verzweifelten Reaktionen der vom totalen Weltmarkt "ausgespuckten" Menschen, die das neue Weltsystem in die Krise stürzen. Die Kosten der "Sicherheit" steigen in astronomische Grössen. Zwar können die ehemaligen imperialistischen Länder in einer globalisierten Ökonomie keine Kriege mehr untereinander führen, aber sie müssen gemeinsam eine "Weltpolizei" gegen die globalen Verlierer mobilisieren, um die Geschäftsbedingungen für die Inseln des Reichtums zu sichern. Dieser neue Krieg wird vielleicht noch teurer als der frühere "kalte Krieg". Überall beginnt die Mafia, Attribute der staatlichen Souveränität zu usurpieren. Verwilderte ehemalige Entwicklungs-Diktaturen, z.B. das Regime von Saddam Hussein, werden unberechenbar. Der religiöse Fundamentalismus überschwemmt die Welt mit Terror. In immer mehr Ländern gibt es perspektivlose militante Bewegungen, die "nationalistisch" genannt werden, in Wirklichkeit aber "ethnizistisch" und meistens separatistisch sind. Im Gegensatz zu den alten bürgerlichen Nationalbewegungen vom 18. Jahrhundert bis zum "Befreiungsnationalismus" der Dritten Welt geht es dabei nicht mehr um die Integration, sondern im Gegenteil um die Desintegration von Nationen bzw. Nationalökonomien. Die Globalisierung einer "Ökonomie der Minderheit" führt direkt in den "Welt-Bürgerkrieg", in jedem Land und in jeder Stadt. Nur mit belegter Stimme können wir fragen, was gegen diese Entwicklung zu tun ist. Ein Zurück zur alten Welt der Nationalökonomien wird es vermutlich nicht geben. Paradoxerweise ist dennoch der Nationalstaat der hauptsächliche Raum politischer Öffentlichkeit geblieben. Können in diesem Widerspruch die Nationen anders als bloss negativ überwunden werden? Ist es möglich, dass "postnationale" Territorien und Operationsfelder jenseits von Markt und Staat entstehen? "Unterhalb" der Nationalökonomie, auf der lokalen und regionalen Ebene, entwickeln sich in einigen Ländern neue Formen der Selbstverwaltung, Genossenschaft und Selbstversorgung für die menschlichen Grundbedürfnisse. Aber dafür stehen viel zu wenig Ressourcen zur Verfügung. Es gibt Bewegungen wie die von Betinho in Brasilien. Es gibt die NGOs (Non-Government-Organizations). Und es gibt weltweit operierende Vereinigungen wie Amnesty International oder Greenpeace, die weder kommerziell noch staatlich sind. Aber alle diese Gruppen besitzen bis jetzt noch keine neue sozialökonomische Kompetenz; sie befassen sich fast nur mit einzelnen negativen Folgen der Globalisierung, ohne das ökonomische System in Frage zu stellen. Und wo bleibt die Theorie, die Internationale des kritischen Gedankens? Der "ewige Frieden", den Immanuel Kant an der Schwelle der bürgerlichen Moderne als Frieden zwischen unabhängigen Nationen proklamiert hatte, konnte sein Versprechen ebensowenig einlösen wie der "proletarische Internationalismus" der sozialistischen Bewegungen. Heute scheint es so, als hätte die Philosophie endgültig vor der Barbarei des totalen Marktes kapituliert. Sollen am Ende die Buchungsimpulse der globalisierten Finanzmärkte als einzige Form der internationalen Kommunikation übrigbleiben? Ebenso leichtfüssig wie das flüchtige Geld kann auch das nicht-konforme Denken sein. Wir brauchen die Globalisierung einer neuen Gesellschaftskritik.

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