Der kurze Sommer des Keynesianismus

von Robert Kurz
veröffentlicht von michel am 25.03.2004

Vom unglücklichen Bewusstsein zum kollektiven Gedächtnisverlust der ökonomischen Theorie

John Maynard Keynes (1883 - 1946) war vielleicht einer der interessantesten Menschen des 20. Jahrhunderts. Als Spezialist der Geld- und Währungstheorie genoss er schon seit dem 1. Weltkrieg hohes Ansehen. Aber seine Interessen waren viel weiter gespannt. Von Haus aus Mathematiker, hatte er zunächst mit seinem "Traktat über Wahrscheinlichkeit" (1921) internationales Aufsehen erregt. Seine eigentliche Liebe gehörte der Philosophie. Aber es war ihm nicht vergönnt, auf diesem Gebiet in Cambridge akademisch tätig zu werden, wie er gehofft hatte. Er mischte sich in die Politik, war im britischen IndienMinisterium tätig und auch als wirtschaftlicher Praktiker im Versicherungswesen und an der Börse erfolgreich. Sein Vermögen erlaubte es ihm, unabhängig zu sein; er förderte die Kunst und war ein grosser Kunstsammler. Er kaufte den Nachlass von Sir Isaac Newton, machte ihn der Forschung zugänglich und publizierte selber darüber.

Diese Weite des geistigen Horizonts war nicht in die engen Grenzen einer wissenschaftlichen Fachdisziplin zu bannen. Ähnlich wie bei Marx finden wir in den Schriften von Keynes auf Schritt und Tritt transdisziplinäre Gedanken, in denen eine Einheit von Philosophie, Politik und Ökonomie aufscheint. Und dennoch hat Keynes, wie er selber sagt, als Ökonom die Grenzen der tradierten Fachwissenschaft und der institutionellen akademischen Reputation niemals überschritten. In gewisser Weise enthält sein theoretisches Werk ein Moment von dem, was der Philosoph Hegel "unglückliches Bewusstsein" genannt hat. Auch sein persönliches Leben ist davon betroffen. Der vornehme EtonAbsolvent bewegte sich in den höchsten Kreisen der offiziellen Gesellschaft, aber er heiratete die russische Tänzerin Lydia Lopokova (und interessierte sich seitdem auch noch für die Geschichte des Theaters und des Ballets). Auch soll er von starken homoerotischen Neigungen geprägt gewesen sei, wie immer wieder kolportiert wird. Vielleicht war John Keynes ein Adler in einem goldenen Käfig. Und vielleicht war es sein Unglück, dass er kein rebellischer Aussenseiter sein konnte.

Dieses Moment des "unglücklichen Bewusstseins" ist auch in seinem 1936 erschienenen Hauptwerk ("Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes") zu erkennen, das später als Beginn der "KeynesRevolution" in der ökonomischen Theorie bezeichnet wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt galt in der akademischen Wissenschaft unangefochten das von JeanBaptiste Say (1767 - 1832) formulierte Theorem, dass jedes Angebot sich automatisch seine eigene Nachfrage schaffe und prinzipiell ein Gleichgewicht des Marktes allein durch den Markt selber hergestellt werden könne. Say systematisierte damit einen Grundgedanken, der bereits bei den ökonomischen Klassikern Adam Smith und David Ricardo zu finden ist. Dieser Auffassung zufolge können Disproportionalitäten des Marktes, Krisen und Arbeitslosigkeit immer nur eine Folge von "ausserökonomischen Ursachen" sein. Verantwortlich dafür sind Kriege, Politik und nicht zuletzt Gewerkschaften, die angeblich den "natürlichen" Prozess des Marktes verfälschen.

Keynes war der erste seriöse Ökonom, der dieses Theorem grundsätzlich in Frage stellte. Aber er war nicht der erste Theoretiker, der das tat. Denn schon fast ein Jahrhundert zuvor hatte Karl Marx, das Enfant terrible der modernen Wissenschaft, die Krisen nicht durch "ausserökonomische Ursachen", sondern durch die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise selbst erklärt. Marx galt jedoch nicht als seriös; seine Theorie war im offiziellen Pantheon nicht zugelassen und, wie Keynes bemerkte, vom Standpunkt der akademischen Wissenschaft aus in eine "Unterwelt" verbannt. So stellte sich Keynes die unglückliche Aufgabe, die schon längst von einem Aussenseiter ausgearbeitete Kritik an Say und der klassischen Theorie nun auch innerhalb der akademischen Volkswirtschaftslehre zu formulieren. Die "KeynesRevolution" war keine Revolution gegen die herrschende Theorie, sondern das Paradoxon einer Revolutionierung des wissenschaftlichen Establishments selbst.

Der Ruhm von Keynes ist nicht denkbar ohne die grosse Weltwirtschaftskrise von 1929 - 33. Dieses ökonomische Erdbeben erschütterte die modernen Gesellschaften so tief, dass auch die Grundannahmen der ökonomischen Klassik ins Wanken gerieten. Die "General theory" von Keynes kann als die Antwort der akademischen Volkswirtschaftslehre auf die Weltwirtschaftskrise verstanden werden. Keynes wies nach, dass das Theorem von Say nur einen Sonderfall darstellt und keine Allgemeingültigkeit beanspruchen kann. Ein relatives Gleichgewicht des Marktes ist auch auf niedrigem Niveau und bei einem grossen Ausmass an Unterbeschäftigung möglich. Mit anderen Worten: der Markt selber kann zu einer Situation führen, in der nicht genügend Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern besteht, sodass ein grosser Teil des gesellschaftlichen Angebots von Arbeitskraft seinerseits keine Nachfrage findet, ganz unabhängig von gewerkschaftlichen Aktivitäten.

Im Gegensatz zu Marx wollte Keynes in diesen Tatsachen jedoch keine Grenze der modernen Ökonomie erkennen. Er hielt es für möglich, den Mangel an Nachfrage zu überwinden. Dies könne jedoch nicht allein durch die mikroökonomischen Entscheidungen der Individuen und der Unternehmen geschehen, sondern vor allem durch Massnahmen auf der makroökonomischen Ebene der Grössen im gesamtwirtschaftlichen Kreislauf. Keynes betonte also die eigenständige Bedeutung der MakroÖkonomie, die von der Klassik vernachlässigt worden war. Er stützte sich dabei auf den Begriff des ökonomischen "Gesamtnutzens" in der Gesellschaft, dessen Maximierung in der englischen Volkswirtschaftslehre bereits vor Keynes als "Welfare Economics" bezeichnet worden war. Keynes löste diesen Begriff jedoch energischer als seine Vorgänger von einer blossen Addition des "individuellen Nutzens" ab. Seit Keynes haben die "Welfare Economics" eine ganz neue, makroökonomische Bedeutung bekommen.

Wie die meisten Sozialisten wollte auch Keynes den Staat als eine Art Deus ex machina mobilisieren, um die ökonomische Krise zu bewältigen. Im Unterschied zum Sozialismus sollte der Staat jedoch nicht zum "Generalunternehmer" werden, sondern lediglich durch makroökonomische Massnahmen die mangelnde Nachfrage stimulieren. Durch eine Erhöhung der Geldmenge, durch eine Umverteilung der Einkommen und durch zusätzliche öffentliche Investitionen könne der Staat dieses Ziel erreichen. Damit die zusätzlichen öffentlichen Investitionen jedoch nicht zum ökonomischen Nullsummenspiel werden, so Keynes, dürfen sie nicht durch zusätzliche Steuern finanziert werden; denn auf diese Weise käme die vermehrte staatliche Nachfrage ja nur dadurch zustande, dass die private Nachfrage abgewürgt wird. Der Staat müsse deswegen auf dem Wege des "Deficit spending" seine zusätzlichen Investitionen finanzieren, also durch Kreditaufnahme und durch Geldschöpfung der Notenbank.

Keynes propagierte Massnahmen des Staates, die bis dahin als unseriös und gefährlich gegolten hatten. Allerdings konnte er sich dabei auf eine ökonomische Praxis stützen, die im 1. Weltkrieg allgemein geworden war. Die keynesianischen "Welfare Economics" standen von Anfang an in einer engen Beziehung zu den "Warfare Economics" der Kriegswirtschaft. Der gemeinsame Nenner war das Deficit spending. Schon seit Beginn der Neuzeit hatten sich viele Staaten in Zeiten des Krieges verschuldet, weil die regulären Einnahmen durch Steuern nicht mehr ausreichten. Aber im 1. Weltkrieg erreichte diese Praxis eine neue Qualität, denn die Kosten der industrialisierten Kriegführung überstiegen alle bis dahin bekannten Dimensionen. Damals glaubte man noch, die enorme Staatsverschuldung sei eine Ausnahmeerscheinung des Krieges gewesen. Aber unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise schlug Keynes nun vor, das Deficit spending auch für die Ankurbelung der zivilen Ökonomie einzusetzen. Er meinte sogar, notfalls müsse der Staat in der Krise "Pyramiden bauen" oder "Löcher graben und wieder zuschütten", um zusätzliche Nachfrage zu erzeugen. Unfreiwillig zeigte er damit, dass die moderne Ökonomie den Charakter eines absurden Selbstzwecks hat. Der sinnlose und destruktive Verbrauch von Ressourcen in den militärischen Industrien des Todes wiederholt sich in der zivilen Ökonomie, nur damit die blind vorausgesetzte Eigendynamik des Geldes genährt werden kann. Auch in dieser Hinsicht verrät die Theorie von Keynes ein "unglückliches Bewusstsein".

Das historische Schicksal der "KeynesRevolution" war ein höchst eigenartiges. Die ökonomische Praxis sowohl des "New Deal" von US-Präsident Roosevelt als auch der faschistischen Diktatur in Deutschland (beides Antworten auf die Weltwirtschaftskrise) zeigte zwar eine gewisse Ähnlichkeit mit den Gedanken von Keynes. Aber diese Praktiken waren mehr spontan und pragmatisch entstanden, jedenfalls noch nicht durch die "General theory" legitimiert. Nach dem 2. Weltkrieg war die jüngere Generation der Ökonomen grösstenteils von Keynes beeinflusst. Dagegen hielt die ältere Generation, die meistens noch auf den Lehrstühlen sass, weiterhin an der klassischen Theorie fest. Aber auch die Vertreter der Klassik hatten inzwischen auf die Weltwirtschaftskrise reagiert, freilich ganz anders als Keynes. Der deutsche Ökonom Walter Eucken (1891 - 1950) führte die Krise darauf zurück, dass die Konkurrenz der Marktteilnehmer institutionell nicht ausreichend gesichert sei und der Markt von sich aus zu Monopolen führen könne. Auch er plädierte also für den Eingriff des Staates; aber nicht durch Deficit spending auf der Ebene der MakroÖkonomie wie bei Keynes, sondern durch eine institutionelle "Ordnungspolitik", die den freien Wettbewerb staatlich garantieren soll. Diese Schule wurde als Neoliberalismus bezeichnet.

In der ersten Ära nach dem 2. Weltkrieg waren die Neoliberalen einflussreicher als die Keynesianer. Und der unerwartete Boom der 50er und 60er Jahre, besonders das deutsche "Wirtschaftswunder", schien gegen Keynes zu sprechen. Der deutsche Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, eine Symbolfigur der damaligen Prosperität, bekannte sich zur neoliberalen Doktrin. Aber die Prosperität hatte ihre Ursache nicht in einer grösseren Freiheit der Konkurrenz als früher, sondern in der strukturellen Entwicklung der zentralen Industrien (Produktion von Autos, Kühlschränken, Waschmaschinen, Fernsehgeräten usw.), die eine starke Nachfrage auf allen Ebenen (Arbeitskraft, Konsum, Investitionen) erzeugte. Ausserdem war diese Entwicklung zumindest indirekt durch einen staatsökonomischen Impuls in Gang gekommen. Den Startschuss für die neue Prosperität hatten nämlich die "Warfare Economics" des Koreakriegs Anfang der 50er Jahre gegeben; und seitdem haben die USA als Weltpolizist eine "permanente Kriegswirtschaft" entwickelt, die nur durch ein ebenso permanentes Deficit spending aufrechterhalten werden kann.

Aber die Zeit des "Wirtschaftswunders" war nur ein kurzer sibirischer Sommer der Geschichte nach der Epoche der Weltkriege. Schon in den 60er Jahren fielen die Wachstumsraten wieder, und in den 70er Jahren drohte sogar das Gespenst von 1929. Jetzt schien die grosse Zeit des Keynesianismus gekommen, zumal die jungen Ökonomen der 40er Jahre inzwischen in führende Positionen aufgerückt waren. In den wichtigsten westlichen Ländern, vor allem in den USA, England und Deutschland, begann eine Ära keynesianischer Wirtschaftspolitik. Das Deficit spending wurde in grossem Masse als Herzschrittmacher des Kapitalismus eingesetzt. Auch die meisten Konzepte für die Entwicklung der 3. Welt enthielten Ideen von Keynes.

Leider muss man sagen, dass der Sommer des Keynesianismus noch kürzer war als die neoliberale Ära der Prosperität. Keynes selber hatte geglaubt, das Deficit spending könne sich darauf beschränken, eine Art Starthilfe für die Eigendynamik des Marktes zu geben. Aber bald stellte sich heraus, dass das Herz des Marktes ohne Herzschrittmacher nicht mehr schlagen konnte. Das Resultat war eine sprunghaft steigende Inflation und eine allgemeine Krise der Staatsfinanzen. In der neuen Krise Anfang der 80er Jahre wurde der Keynesianismus als ökonomische Doktrin beerdigt. Damit bewies er sein "unglückliches Bewusstsein": für die Weltwirtschaftskrise war er zu spät gekommen, in der Prosperität nach 1950 wurde er nicht gebraucht, und als er endlich zum "weissen Ritter" der Ökonomie werden sollte, da war er schon veraltet.

Was war der Fehler? Keynes verstand ebenso wie seine neoklassischen bzw. neoliberalen Konkurrenten die moderne Ökonomie nicht als einen (irreversiblen) historischen Prozess, sondern als die Existenzweise zeitloser ökonomischer Kategorien. Das ist erstaunlich, weil er in einem seiner Aufsätze schon 1930 als einer der ersten den Begriff der "technologischen Arbeitslosigkeit" verwendet hatte und voraussah, dass "unsere Entdeckung von Mitteln zur Ersparung von Arbeit schneller voranschreitet als unsere Fähigkeit, neue Verwendung für die Arbeit zu finden". Aber weil er glaubte, dieses Stadium werde erst ein Jahrhundert nach seiner Zeit erreicht, verfolgte er den Gedanken nicht weiter. In der "General theory" haben wir es nicht mit der strukturellen Entwicklung des realen Kapitalismus zu tun, sondern mit der zeitlosen "Psychologie der Marktteilnehmer" und den daraus möglichen "Fällen" eines zeitlosen ökonomischen Systems. Der Keynesianismus der 70er Jahre ist aber nicht an einer "falschen" Wirtschaftspolitik auf dieser zeitlosen Ebene gescheitert, sondern daran, dass die tragenden Industrien der historischen Entwicklung nach dem 2. Weltkrieg strukturell erschöpft waren.

Seit den 80er Jahren hat die mikroelektronische Revolution genau jene Grenze der modernen Ökonomie in Reichweite gerückt, die Keynes 1930 vorausgesagt hatte (auch wenn seine Schätzung naturgemäss ungenau war). Deswegen ist seine eigene Theorie gegenstandslos geworden. Das gilt auch für die von ihm vorgeschlagenen wirtschaftspolitischen Massnahmen, die relativ geschlossene Nationalökonomien voraussetzen. Keynes war sich darüber durchaus im klaren und hatte deshalb frühzeitig vor einer zu starken Expansion des Weltmarkts gewarnt. Die Ökonomen aber erlitten nach dem Ende des Keynesianismus einen kollektiven Gedächtnisverlust. Statt sich die Grenzen des modernen ökonomischen Systems einzugestehen, kreierten sie einen NeoNeoliberalismus und wärmten die längst widerlegte klassische Theorie wieder auf, als hätte es die Weltwirtschaftskrise und die Krise der 70er Jahre niemals gegeben. Wer aber die Geschichte bloss vergisst, statt sie kritisch zu überwinden, der ist dazu verurteilt, sie noch einmal zu erleben.

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